NATURDEFIZITSYNDROM
Als die Kinder den Wald verließen...
Immer wieder zieht es uns Menschen raus in die Natur.
Besonders wenn der Kopf aufgrund persönlicher Probleme gelüftet werden muss, neigen wir förmlich zur Flucht ins Grüne, um mal wieder tief durchzuatmen und uns innerlich zu besinnen. Die Natur die uns umgibt, erdet uns im wahrsten Sinne des Wortes. Aber warum ist das so? Liegen die Wurzeln unseres Verhaltens vielleicht im menschlichen Ursprung und sind wir mit unserer Umwelt doch mehr verbunden als wir glauben?
Der Autor Richard Louv bezeichnet in seinem Buch "Das letzte Kind im Wald?" das Naturdefizitsyndom (Naturdefizitstörung) als die zunehmende Entfremdung von unserem angestammten Lebensraum, welche eine ganze Reihe von körperlichen und geistigen Folgen mit sich bringt.
Durch mangelndes Erleben der natürlichen Kreisläufe unserer Erde, schwindet zunehmend das Verständnis für dessen Bedeutung; und dies bereits im Kindesalter.
Besonders stark betroffen hiervon sind Kinder die in urbanem Lebensraum aufwachsen, kaum Berührungspunkte zur Natur haben, und somit sehr früh einem Prozess der Naturentfremdung ausgesetzt sind – aber auch bei Kindern in ländlichen Gemeinden ist dieses Phänomen mittlerweile zu beobachten.
Ich (Martin) erinnere mich gerne an meine eigene Kindheit, welche viel aus ziellosem Streunern, auf Bäume klettern, Hüttenbau und rutschigen Bachwanderungen bestand. Eines hatten alle diese Tage draußen gemeinsam... Die Kleidung war mindestens dreckig; und jeder neue blaue Fleck war eine kleine Geschichte, die man stolz seinen Freunden präsentieren konnte. Meist hatten meine Eltern nur eine grobe Vorstellung, wo ich mich den ganzen Tag bei Wind und Wetter rumtrieb. Smartphones gab es zu dieser Zeit noch nicht, so dass wir meist ohne Aufsicht auf uns selbst achtgeben mussten.
Heutzutage sieht das leider ein wenig anders aus. Selbst auf dem Land verbringen Kinder ihre Freizeit oft lieber in geschlossenen Räumen und widmen sich den virtuellen Abenteuern ihrer Spielkonsole. Oft beobachten wir hier eine eingeschränkte Wahrnehmung aller Sinne. Selbst auf dem morgentlichen Weg zur Bushaltestelle liegt der scheuklappenartige Fokus nur auf dem Smartphone und bestenfalls im Straßenverkehr.
In der durchschnittlichen Schule selbst, vermittelt eine frontale Lehrkraft etwas Biologie und Naturkunde in geschlossenen Räumen. Praktische, ganzheitliche Naturerfahrungen kommen meist viel zu kurz. Die kindliche Neugier bleibt stillsitzend auf der Strecke, während man doch mit allen Sinnen die Natur lebhaft entdecken sollte. Kinder, wie auch Erwachsene sollten sich als Teil unserer Umwelt erfahren dürfen, und sich nicht in Klassenzimmern, Büros oder Autos vor ihr verstecken.
Wir würden uns selbst und unseren Kindern wirklich etwas Gutes tun und gleichzeitig dem wachsenden Desinteresse gegenüber unserer Natur vorbeugen.
Aber welche Folgen hat das außer einem mangelnden Naturbewusstsein?
Mal abgesehen davon, dass es sich hier um aktiven und nachhaltigen Umweltschutz handelt, der nichts Geringeres als der Schutz unserer eigenen Spezies ist, bleiben im Kindesalter bereits wichtige körperliche & geistige Entwicklungen auf der Strecke. Der Aufenthalt in Wald und Natur hält uns gesund, ist immunstärkend, charakterbildend und blutdrucksenkend. Weiterhin schult freies Spielen in der Natur die Wahrnehmung, lehrt Achtsamkeit und fördert spielerisch Neugier & Kreativität.
Wohingegen dauerhafter Aufenthalt in geschlossenen Räumen nachweislich eine degenerative Entwicklung und fehlende soziale Entwicklung begünstigt.
Besonders in Großstädten kann das Fehlen von naturnahen Sinneserfahrungen Hyperaktivität, Depressionen, Suchtprobleme und Unverständnis gegenüber dem eigenen Lebensraum zur Folge haben, und das Bewegungsmangel die Entwicklung der motorischen Fähigkeiten einschränkt (Koordination & Balance) oder zu Fehlhaltungen und Übergewicht führen kann, ist auch längst kein Geheimnis mehr.
Naturdefizit ist keine ärztliche Diagnose, sondern ein gesellschaftliches Problem!
Aber wo soll die Motivation zur Bewegung auch herkommen, wenn hierfür heutzutage kaum noch Notwendigkeit besteht. Wenn die Eltern ihren Kindern, Digitalisierung und Terminkalender sei Dank, genau diese Lebensweise vorleben?
Wir können mit unserer Technik viele Dinge bereits bequem im Sitzen erledigen. Für alle anderen Aufgaben gibt es auch meist Lösungen zu kaufen, oder einen Facharbeiter den man hierfür beauftragen kann. Wir leben mittlerweile in einer Welt, in der wir uns kaum noch mit kreativer Problemlösung befassen müssen, da wir fast jede Aufgabe per Smartphone lösen können.
Das Letzte, das wir also tun sollten, ist mit dem Finger auf unsere technikaffinen Kinder zu zeigen, während wir sie mit dem Elterntaxi direkt bis ins Klassenzimmer fahren und ihr freies Spielen aus Angst vor Verletzungen mit Vorschriften blockieren.
Kinder sind Höhlenbauer, imitieren wilde Tiere, spielen Fangen oder entdecken streunend diese Welt. Sie sollten Grenzen in Form von Mutproben testen dürfen, ihre Autonomie genießen und unbeaufsichtigt mit ihren Spielkameraden auf Entdeckungstour gehen dürfen. Diese Art des Spielens ist tief in unserem menschlichen Ursprung verwurzelt, und auch wir sogenannten Erwachsenen sollten uns viel öfter hierfür Zeit einräumen.
Die Wildnispädagogik fördert die Renaturierung von Menschen aller Altersklassen und schult die eigene Wahrnehmung. Entgegen unserer Berufsbezeichnung benötigen wir also keine unberührte Wildnis um uns herum, sondern verändern lediglich den Blickwinkel.